Roter Sommer
![Buchseite und Rezensionen zu 'Roter Sommer' von Berna Gonzalez Harbour](https://m.media-amazon.com/images/I/5129DIU6CpL._SL500_.jpg)
Vor fast genau zwei Jahren las ich „Goyas Ungeheuer“, eine Neuerscheinung passend zum damaligen Gastlandauftritt Spaniens auf der Frankfurter Buchmesse. Nun präsentiert der Pendragon Verlag mit „Roter Sommer“ den bereits 2012 im Original erschienenen ersten Fall von Comisaria María Ruíz, dessen Inhalt (leider) heute noch ebenso aktuell ist wie vor zwölf Jahren.
Im Sommer 2010 fiebert ganz Spanien mit seiner La Furia Roja, seiner Fußball-Nationalmannschaft, die als heißer Titelfavorit der WM gilt. Auch die Kommissarin hat sich mit ihrer Großfamilie vor dem Bildschirm verabredet – doch daraus wird nichts. Stattdessen wird zu einem grausigen Tatort gerufen. Im Skulpturenpark des Parks Juan Carlos I. wurde die Leiche des Teenagers Samuel im See versenkt aufgefunden. Dem Mord haftet etwas Rituelles an, der Polizeiapparat arbeitet auf Hochtouren, zumal sich bald mit dem gleichaltrigen Alejandro ein zweites Mordopfer hinzugesellt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Taten? Nach und nach sammeln sich Indizien, die dafür sprechen. Offenbar kannten sich Samuel und Alejandro aus einem katholischen Sommercamp, sie tragen auch dasselbe Symbol als Tattoo am Körper. Sind sie Opfer sexueller Gewalt geworden? Steckt ein bigotter Pädophilenring dahinter?
Die Comisaria und ihr Team ermitteln in sehr unterschiedlichen Milieus. Maria ist zweifellos die treibende, kombinierende und investigative Kraft, auf die sich ihr Team verlassen kann. Hilfestellung bekommt sie von ihrem langjährigen Mentor, dem bereits pensionierten Kommissar Carlos, sowie von Enthüllungsjournalist Luna, den gerade ziemliche Existenzängste plagen, die ihn jedoch nicht daran hindern, eigenmächtige Nachforschungen zu betreiben. Die Autorin versteht es, glaubwürdige und vielschichtige Charaktere ins Geschehen einzubinden. (Die Figurenzeichnung auf Seiten der Bösen stellt sich etwas weniger facettenreich dar, was mich aber keinesfalls gestört hat.) Ein paralleler Handlungsstrang lässt den Leser in die Gedankenwelt eines zunächst namenlosen, unheimlichen Geistlichen eintauchen, der ein neues Leben in Uruguay plant. Ist er etwa in die Morde verstrickt?
Die Kombination aus Kriminalfall, atmosphärischem Lokalkolorit (das Lust auf Urlaub in Madrid macht), interessanten Charakteren und stimmiger Plotführung hat mich erneut sehr begeistert. Der Fall nimmt überraschende Wendungen, wird spritzig und kurzweilig erzählt, wobei auch Zwischenmenschliches nicht zu kurz kommt. Man lernt die Protagonisten durch laufende Perspektivwechsel immer besser kennen. Insbesondere die Comisaria wird als kluge, ehrgeizige, aber auch empathische und sensible Frau gezeichnet. Die Dialoge wirken höchst authentisch, die Spuren und Beweise verdichten sich zunehmend, bevor die Auflösung des Falles in einem atemberaubenden Finale endet, was der Roman in dieser Form eigentlich nicht nötig gehabt hätte.
„Roter Sommer“ ist ein Krimi, der sich wohltuend von der Masse abhebt. Berna González Harbour versteht ihr Handwerk. Hervorzuheben ist die geglückte Übersetzung von Kirsten Brandt.
Hoffentlich dürfen wir bald weitere Romane aus dieser wunderbaren Reihe lesen.
Zwölf Jahre alt, aber immer noch aktuell
REZENSION – Literarischen Erfolg hatte die spanische Schriftstellerin und Journalistin Berna González Harbour (59) erst 2019 mit ihrem vierten Roman der Krimireihe um Comisaria María Ruiz in Madrid, der mit dem spanischen Krimipreis Premio Hammett ausgezeichnet und vor zwei Jahren als „Goyas Ungeheuer“ auf Deutsch erschien. Aber auch ihr bereits 2012 veröffentlichter Debütroman „Roter Sommer“, den der Pendragon Verlag mit zwölfjähriger Verspätung erst jetzt im Juli herausbrachte, hat Beachtung verdient, behandelt er doch ein damals wie heute überaus heikles und unverändert aktuelles Thema: Es geht um die seit 2010 zunehmende Aufdeckung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche, wobei ausgerechnet in dem vom Katholizismus tief geprägten Spanien damals kaum Fälle bekannt waren. Mit ihrer journalistischen Erfahrung, die González Harbour als Journalistin über Jahre bei der renommierten Tageszeitung El País sammeln konnte, hat sie diese Thematik in ihrem ersten Kriminalroman recht ausgewogen verarbeitet. Darin prangert sie einerseits die katholische Kirche Spaniens für ihre Verbrechen an minderjährigen Jugendlichen an und das bis dahin völlige Versagen der Kirchenführung bei der Aufklärung dieser Straftaten. Andererseits zeigt sie aber auch die damalige Sicht des Klerus, der Missbrauchsfälle durch Priester nicht als Straftaten im Sinne des Rechtsstaats, sondern als Sündenfälle ansah, die allein vor Gott zu rechtfertigen und deshalb nur im Kreis der Kirche intern zu behandeln seien.
Der Krimi „Roter Sommer“ spielt während der Finalrunde der Fußballweltmeisterschaft 2010, aus der die spanische Mannschaft als Weltmeister hervorging, und der gleichzeitig laufenden Vorbereitungen für den Besuch von Papst Benedikt XVI., der für Anfang November geplant ist. Auch deshalb muss aus Sicht der Kirche das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen unbedingt verhindert werden. Am Tag des Viertelfinalspiels Spanien gegen Paraguay (3. Juli 2010) wird die nicht zu identifizierende Leiche eines Jugendlichen im Madrider Stadtpark gefunden. Statt das Qualifikationsspiel mit ihrer Familie im Fernsehen verfolgen zu können, muss die als eigenwillig bekannte Comisaria María Ruiz mit ihren Mitarbeitern Esteban und Martín die Ermittlungen aufnehmen. Zur selben Zeit wird in Santander – dort ist die Autorin aufgewachsen – der junge Alejandro vermisst. Erst als auch dessen Leiche am Strand angespült wird, wird den Ermittlern klar, dass sie nun zwei Morde aufzuklären haben. Bald finden sie heraus, dass sowohl Alejandro als auch der im Madrider Stadtpark aufgefundene Samuel Schüler einer katholischen Schule waren. In Alejandros Zimmer findet María eine Mappe mit Fotos von homosexuellen Handlungen – auf einem ist der Lehrer und Priester Clemente zu erkennen – und Kriminaltechniker Tomás entdeckt in den Chat-Nachrichten der Jugendlichen ein bedrohlich klingendes Bibelzitat. Unerwartete Unterstützung erhält die Comisaria vom Investigativreporter Luna, der sich beim Namen des Priesters Clemente an einen alten Missbrauchsfall in den 1970er Jahren erinnert, dessen Veröffentlichung ihm damals verboten wurde. Führen diese Spuren die Comisaria zum Mörder?
Als Debüt mag „Roter Sommer“ noch literarische Schwächen haben, doch ist der Roman in jedem Fall spannend – dies nicht zuletzt wegen der anhaltenden Aktualität des von der Autorin aufbereiteten Themas. Schon bei Erscheinen der Originalausgabe im Jahr 2012 hätte er mehr Beachtung verdient. Denn während in anderen Ländern Europas die aufgedeckten Missbrauchsfälle in Kreisen katholischer Priester in Zahlen zunahmen, sprach man erstaunlicherweise in Spanien nur von Einzelfällen. Erst als die Zeitung El País im Jahr 2018 über das Thema ausführlich zu berichten begann, meldeten sich immer mehr Opfer.
Trotz der zwölfjährigen Verspätung veröffentlichte der Pendragon Verlag die deutschsprachige Romanausgabe im vergangenen Juli zu einem überraschend passenden Zeitpunkt: Denn erst nachdem eine unabhängige Untersuchungskommission bekanntgab, dass es in Spanien seit den 1960er Jahren hochgerechnet fast 450 000 Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gegeben haben dürfte, legten die katholischen Bischöfe erst jetzt im Juli – also zeitgleich mit Erscheinen von „Roter Sommer“ – einen umfassenden Entschädigungsplan für Betroffene vor. Es gibt also mehrere Gründe, diesen Roman zu lesen, der so gesehen weit mehr ist als ein rein fiktiver Krimi.